Die Odyssee des roten Koffers

Blick vom Berliner Dom

Kennt jemand den alten Schlager “Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin”? Nach unserer kleinen Europa-Reise im März diesen Jahres hab’ ich jetzt auch einen Koffer anderswo, und zwar in Bergen (das ist in Norwegen und lässt sich nicht ganz so gut singen wie “Berlin”).

Wir waren auf unserem Trip unterwegs mit Eurail, die dafür, dass sie uns Eurail-Pässe zur Verfügung stellten (freie Bahn-Fahrt in Europa!), im Austausch eine Anzahl von Bildern für ihren eigenen Blog haben wollten. Daraufhin kam mir die großartige Idee, einen ganz speziellen und ausgenommen fotogenen Koffer zum Gepäckstück meiner Wahl zu machen.

Hierbei handelte es sich um ein knallrotes Exemplar, vermutlich aus den siebziger Jahren, innen ausgeschlagen mit rosa Seide und sogar komplett mit Rollen, das mir vor Jahren mal aus einem Haufen Sperrmüll entgegenleuchtete. Es war Liebe auf den ersten Blick, und da er aussah wie neu, nahm ich ihn damals mit zu mir nach Hause. Einen schicken roten Koffer kann man ja immer gebrauchen, oder?

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Naja, nicht wirklich. Eigentlich überhaupt nicht. Trotzdem habe ich ihn nie weg gegeben, und an dem Tag, an dem Eurail erklärten, dass sie gerne Fotos von uns hätten, wusste ich endlich, warum! Ein roter Koffer ist ganz klar das perfekte Accessoire auf Fotos von Bahnhöfen, Landschaften, Reisenden und Städtetouren. Ich war begeistert. Vermutlich hauptsächlich, weil diese Gelegenheit der Tatsache, dass ich das sperrige Ding seit Jahren in meinem Besitz hatte, erstmals einen Sinn verlieh.

Loz hingegen zweifelte: “Bist du dir sicher, dass du dieses Monstrum wirklich die ganze Zeit mit dir ‘rumschleppen willst?”, aber solchen blasphemischen Äußerungen war ich immun gegenüber. Alles für die Kunst!

Die Kunst grinste sich einen hinter meinem Rücken, weil ihr ziemlich klar war, wie diese Geschichte weitergehen würde. Bei mir hingegen dauerte es etwas länger, bis mir dämmerte, dass mein Köfferchen ausschließlich als Accessoire taugte, und rein gar nicht zum unkomplizierten Transportieren meiner Siebensachen. Diese Erkenntnis behielt ich natürlich für mich – obwohl meine permanent gezischten Flüche nichts dazu taten, mein großes Geheimnis zu wahren.

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Wie kann etwas, das so gut aussieht, so unpraktisch sein? Wobei ich denke, dass dieser Koffer ursprünglich eher dazu entworfen war, über eine Strecke von maximal 50 Metern mühelos über glatte Marmorböden in eleganten Hotel-Lobbies zu gleiten, als bei skandinavischen Minustemperaturen auf dem Weg zum Hotel 2 km durch Schnee-und-Streusalz-Matsche zu pflügen…

Wie dem auch sei, wir hielten uns beide tapfer (der Koffer und ich) und reisten durch die Lande. Von Frankreich aus ging es nach Belgien, dann Berlin, anschließend nach Dänemark.  In Schweden schließlich begann unsere “Heile Welt”-Fassade zu bröckeln. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung (der Koffer und ich), die zu einer Beule führte (beim Koffer), welche wiederum so unglücklich lag, dass es fortan Probleme beim Schließen des Deckels gab. Wir versuchten, so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, aber mein Vertrauen war endgültig gebrochen, und als wir in Oslo waren, kaufte ich heimlich eine Reisetasche.

Ich denke, wir wussten beide (der Koffer und ich), dass er Norwegen nicht mehr verlassen würde. Schließlich hatten Loz und ich von Bergen aus einen Flug nach Amsterdam gebucht. Ich konnte mir weiß Gott nicht vorstellen, mein Hab und Gut einem Gepäckstück anzuvertrauen, das bei der nächsten etwas unsanfteren Behandlung aufgeben und all meinen Besitz auf dem Flughafenrollfeld verstreuen würde. Das wäre dann doch zu viel des Guten.

JumboStay Schweden Stockholm

Also packte ich am Abend vor unserem Flug aus Bergen unauffällig die Reisetasche. Der Koffer tat so, als bemerke er es nicht. “Es ist nur ein Koffer”, versuchte ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen, aber das änderte nichts daran, dass ich die ganze Situation suboptimal fand.

Ich adoptiere recht oft Sachen, die mir gefallen, ohne dass ich sie brauche oder gebrauchen könnte und habe dann Schwierigkeiten, sie wieder loszulassen. Wegschmeißen? Aber es ist doch noch ‘gut’! Verschenken? Gerne, aber ich will ja niemandem mit Zeug belasten, das er eigentlich nicht haben will. Warum kann denn nicht zum Beispiel eine Freundin, die bei mir zu Besuch ist, sagen: “Oh, DAS ist ja schön! Ich wünschte, ich hätte so etwas!”, und ich kann es ihr schenken, und alle sind glücklich? Weil es einfach nicht passiert, darum.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück räumten wir unser Zimmer und gingen zur Rezeption unserer Jugendherberge, um auszuchecken. Dort trafen wir Jesper und eine Mitarbeiterin an. Mit Jesper hatten wir schon vorher Kontakt gehabt, weil er sich in den Kommentaren einer unserer Blog-Posts als Leser geoutet und geschrieben hatte, dass er sich darauf freue, uns kennen zu lernen.

Ich fragte ihn, wo ich den Koffer entsorgen könnte. Er antwortete, ich könne ihn einfach bei ihnen lassen, und sie würden ihn in ihren großen Müllcontainer schmeißen. Was sehr nett von ihm war. Loz fühlte sich bemüßigt, die Bedeutung des Koffers zu erklären, und wie ich an ihm hing, obwohl er nicht wirklich als Koffer taugte, woraufhin ich ihn aufmachte, um zu demonstrieren, was es für ein toller Koffer war und um noch ein letztes Mal in dieses herrliche Rosa einzutauchen.

Der rote Koffer

Da hörte ich ein leises Stimmchen zaghaft sagen: “Also ich würde ihn nehmen!”. Die Mitarbeiterin, die ihrem Kleidungsstil nach ein Rockabilly-Fan war, hatte sich, genau wie ich damals in jenem schicksalsträchtigen Moment vor dem Sperrmüllhaufen, von dem Koffer einnehmen lassen. Ihre Wangen färbten sich leicht rot, als sie erklärte, dass er perfekt in ihr Zimmer passen würde. Ich verkniff mir anlässlich der erfreulichen Fügung den Hinweis, dass er auch zu nicht viel mehr tauge, und lobte das gute Stück stattdessen noch ein letztes Mal in den Himmel.

Der Abschied von Bergen war somit ein glücklicher. Man kann mir ja zu Recht nachsagen, dass ich dazu tendiere, Objekte ungebührlich zu personifizieren, aber nicht, dass ich die damit einhergehende Verantwortung leicht nehme! Ich war den Koffer losgeworden, und zwar auf die bestmöglichste Art.

Wo er nun steckt, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Doch kurze Zeit nach unserer Reise erreichte uns ein Foto, das Jesper ins Internet gestellt hatte, und es lässt darauf schließen, dass es nicht die Müllhalde ist… Das Bild zeigt ein Mädchen, das mit dem roten Koffer auf dem Gelände hinter der Jugendherberge steht, von wo aus man einen wunderbaren Blick auf das schöne Bergen hat.

Wo kam er her? Wo geht er hin? Wir wissen es nicht. Eines aber ist sicher: Die Legende des roten Koffers überdauert die Grenzen von Zeit und Raum. Sie lehrt Menschen auf der ganzen Welt, es sich gründlich vorher zu überlegen, bevor sie etwas vom Sperrmüll mitnehmen. Oder so was in der Art.

Blick auf Bergen vom YHA Hostel aus - Bild von Jesper Munck

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